Wassily Kandinsky und Farbklänge

"Schmerzlos können die Farben von ihren Gegenständen getrennt werden, lebendig liegen sie auf unserer Hand und stecken durch ihr Pulsieren den lebhafteren Seelenimpuls an."
Aus: W. Kandinsky, Über die Mauer, 1914

«Wass kann dinsky?» - Kandinskys Farboper Violett

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Wassily Kandinsky ist uns heute hauptsächlich als Maler bekannt. Er gilt als Begründer der abstrakten Malerei. Auf seinem Weg zur Abstraktion liegt jedoch neben einer grundlegenden theoretischen Auseinandersetzung in seiner Schrift "Über das Geistige in der Kunst (1912)" auch die intensive Beschäftigung mit neuen Theaterformen. Er inszenierte zum Beispiel Musorgskis Bilder einer Ausstellung für die Bühne. Hierbei wird Kandinsky unter anderem durch die Schriften der Bühnenreformer Adolphe Appia und Edward Gordon Craig nachhaltig beeinflusst. Zwischen 1908 und 1914 verfasst er fünf Bühnenkompositionen: Den Grünen Klang (1909), Schwarz und Weiß (1909), Schwarze Figur (1909) und Gelber Klang (1912), die als Vorläufer des expressionistischen Dramas gelten. Neben diesen Werken ist die "Farboper" Violett (1914) das längste und vielfältigste; es ist von prädadaistischen Zügen geprägt. Kandinsky verband darin assoziativ verknüpfte Bilderfolgen und suchte bewusst die Elemente Farbe-Form, Text, Raum- Klang und Bewegung auf eine gleiche Ebene zu stellen. Diese Gleichberechtigung der unterschiedlichen Parameter zeigt, dass diese Bühnenwerke keine Dramen im üblichen Sinne sind. Sie beschränken sich auf lyrische Passagen. Die Figurenrede ist gegenüber der szenischen Bemerkung stark in den Hintergrund getreten. So wird stellenweise das Wort als reiner Klangwert eingesetzt. Gleichzeitig emanzipiert er in seinen Libretti die Farbe gegenüber dem Klange. Es stehen Farben, Formen und Klänge im Vordergrund und werden ebenso wie die Sprache vom Zwang zur Realitätsnachahmung befreit.

Farbklänge

"Auf dem blauen Grund, der ungleichmäßig gelblich umfasst ist, bildet sich in der Mitte ein rotes Pünktchen. Weiße Fäden ziehen sich aus den Ecken heraus in diesem Pünktchen zusammen. Ein grellgrünes Oval läuft in alle Richtungen auf dem blauen Grund hin und her. Nur kann es das rote Pünktchen nicht erreichen: es kommt ganz in die Nähe - je näher, desto mehr muss es sich anstrengen - prallt aber sofort wieder zurück. Es rollt dann fast entsetzt über den blauen Grund. Die weißen Fädchen zitterten und müssen manche wieder in die Ecken flüchten. Bis wieder neue Kräfte sich in ihnen bilden, dann kommen sie allmählich wieder zum roten Pünktchen. Und jedes Mal erzittert das Pünktchen in diesen Fällen, wird größer und wieder kleiner (.....)
.... Eine Anzahl bunter Flecken zeigen sich in verschiedenen Gruppierungen an verschiedenen Stellen. Das Rot ermattet. Rechts ziemlich tief, am Rand wächst schnell aus einem Punkt ein grosser grüner Kreis. Das ganze Bild dreht sich: es stellt sich auf die linke Seite, die unten wird; dann ist schon das Oben Unten geworden. Noch eine schnelle Drehung. Wieder eine. Noch und noch eine. Immer schneller. Das ganze Bild dreht sich wie ein Rad - in Geschwindigkeit zunehmend. Peitschenknalle werden hörbar. Immer lauter, schneller. Die Farben und die Laute rasen wild. Ein Schuss. Alles wird dunkel und still."

Aus: W. Kandinsky, Violett, 1926, Satz VII Apotheose

Wie dieser Librettopassage zu entnehmen ist, werden bei Kandinsky die Farben und ihre dazugehörigen Formen regelrecht zum Leben erweckt. Sie agieren wie autonome Lebewesen und erfahren sogar Emotionen. Seine Auffassung des Abstrakten in der bildenden Kunst ist nicht vergleichbar mit anderen nach ihm folgenden Werke abstrakter Künstler. Wassily Kandinskys abstrakte Darstellungen sind von einer einzigartigen Bewegtheit und Tiefendimension gekennzeichnet. Sein "Pünktchen, das grellgrüne Oval, die zitternden Fädchen" und all seine anderen Elemente sind die Figuren, die das Bild komponieren. Sie alle werden autonom behandelt, gleich Schauspielern; ihnen sind Charakteren zugeteilt. Eben diese Charakteren habe ich spezifische Klänge zugeordnet. Das "rote Pünktchen", das einmal der Mittelpunkt für die weißen Fädchen ist und ein andermal erzittert und auf- und zurückschwillt, findet mit dem Klang der "Ondes" des Farblichtflügels seine musikalische Entsprechung. Der auf diese kandinskysche Bildersprache abgestimmte "rote" punktuelle Klang, kann je nach eingesetztem Graphikprogramm beim Spielen ebensolche "rote" unterschiedlich große Pünktchen, die zum Teil auch vibrieren, hervorbringen. Der gleichzeitig im Raum erklingende Klang der "roten Pünktchen" und die dreidimensionale Visualisierung, dazu die Bewegung der visualisierten Graphiken, führt zur ganzheitlichen Auffassung des Kunstwerkes. Der Zuschauer sitzt mitten im abstrakten Bild, das sich um ihn herum bewegt und von Raumklängen begleitet ist. Dass Kandinsky selbst seine abstrakten Bilder in Bewegung erlebt, wurde uns mit dem Libretto des Theaterstücks Violett bewiesen. Diese Auffassung von Formen und Farben, die sich mit dazugehörigen Klängen im Raum bewegen und die Autonomisierung und Emanzipierung der Farben und Formen, zeigen uns, dass Kandinsky mit mehreren Sinneswahrnehmungen gleichzeitig arbeitete. Er hob die Separierung von Bild, Klang und Bewegung auf und verband sie zu einem Ganzen.